Die autonome Hochschule in der Demokratie

Der Begriff der Hochschulautonomie nimmt innerhalb des Gesetzentwurfs eine zentrale Position ein. Er tritt sowohl im Gesetzestext als auch in den Erläuterungen immer wieder auf. So ist bereits im zweiten Abschnitt der Erläuterungen zum Entwurf von der »Stärkung« der Hochschule »Selbstverantwortung und autonomen Handlungsfähigkeit« die Rede. Welches Konzept steht aber hinter dem vielschichtigen Begriff Autonomie? Der inflationäre Gebrauch des Begriffes erklärt ihn noch nicht.

Die Autonomie der Hochschulen ist ursprünglich eine Folge aus der Freiheit der Wissenschaft (GG Art. 5 Abs. 3). Besonders der Erfahrungshorizont des Nationalsozialismus und seines staatlichen Mißbrauchs von Forschung und Lehre machte eine grundrechtliche Garantie der freien Entfaltung von Wissenschaft zu einem wesentlichen Teil des im Grundgesetz geschaffenen Wertekatalogs. Universitäten und später auch Fachhochschulen waren und sind Nervenknotenpunkte des wissenschaftlichen Systems. Daher sind sie in besonderer Weise auf Unabhängigkeit angewiesen. Auch ein staatlicher Eingriff ist nach der theoretischen Trennung von Staat und Gesellschaft eine Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit. Legitimiert wird diese Freiheit aber durch die Funktionen, die die Hochschulen für die Gesellschaft erfüllen. Diese sind Bestandteil jedes Hochschulgesetzes (LHG NRW §3). Hochschulen brauchen als Ort der Wissenschaft und kritischen Reflexion Unabhängigkeit von Partikularinteressen, um ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden zu können. Hieraus ergibt sich, daß die Autonomie ein Mittel zur Erfüllung der gesellschaftlichen Aufgaben sein muß.

Im Widerspruch zu der bereits beschriebenen Unabhängigkeit von staatlicher Bestimmung steht die aus einem »metaphysischen Staatsverständnis« gewachsene öffentliche Trägerschaft des Hochschulsystems. In diesem auf Hegel zurückgehenden Konzept hat der Staat, im Sinne der gesellschaftlichen Entwicklung, die Verantwortung für die Bildung seiner Bürger. Dies beinhaltet die Notwendigkeit staatlicher Regelungen. Nach dem zweiten Weltkrieg übernahm das westliche Europa die stark arbeitsteilige Produktionsweise (Taylorismus). Die dafür notwendigen Formalisierungen wurden auf fast alle gesellschaftlichen Bereiche übertragen. Hieraus entstand seit der Öffnung der Hochschulen am Ende der sechziger Jahre eine sehr hohe Reglementierungsdichte für sie seitens der Politik.

Die letzten zweieinhalb Jahrzehnte sind gekennzeichnet durch umfassende wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen. Abgefedert durch sozialpolitische Steuerungimpulse, weiteten sich im Rahmen dessen die Möglichkeiten individueller Lebensgestaltung und -führung aus (z.B. Bafög). So verlängerte sich für einen großen Personenkreis durch höhere schulische und akademische Qualifikation die Jugendphase. In den 1980er und 1990er Jahren wurde die soziale Absicherung schrittweise politisch-ideologisch bekämpft und auf ein Minimum zurückgestutzt. Somit können die erweiterten individuellen Lebenschancen heute nur von einem privilegierten Teil der jungen Generation realisiert werden, denn Risiken, Kosten und Zwänge werden ebenfalls auf die Einzelnen übertragen. Die Konsequenzen sind materielle Abhängigkeit von den Eltern und von Nebenjobs und damit die Verstärkung sozialer Ungleichheit. Vor diesem Hintergrund kann von der Auflösung sozialer Klassen nicht gesprochen werden. Die neu sich bildenden Leistungsklassen bestärken so in einem wechselseitigen Prozeß die bestehenden Besitzklassen (siehe C.7: Chancengleichheit).

Ein Aspekt der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen hin zu Entformalisierung, Deregulierung und Dezentralisierung ist, geprägt durch eine Ökonomisierung der Politik, die übergreifende Tendenz, den Hochschulen mehr Selbstbestimmung zu geben. Dabei wird angesichts eines völlig unterfinanzierten Bildungssystems aber primär eine Autonomie als Mittel der Selbstregulierung zur (betriebswirtschaftlichen) Effektivitätssteigerung propagiert.

Die beiden Autonomiekonzepte widersprechen sich. Das wird spätestens dann klar, wenn man den Wert demokratischer Prinzipien in diesem Spannungsfeld betrachtet.

Hochschulen wirken »an der Erhaltung des demokratischen und sozialen Rechtsstaats mit und tragen zur Verwirklichung der verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen bei.« (§3 Abs. 1) Sehr deutlich wird den Hochschulen also eine die Demokratie stützende und bildende Funktion zugedacht. Was Wissenschaft und Forschung betrifft, bedeutet dies notwendig, daß die Erkenntnissuche ohne Einflußnahme erfolgen muß. Nur so ist sichergestellt, daß Forschung und Wissenschaft in ihrer Gesamtheit der Breite gesellschaftlicher Interessen entsprechen und somit zur Wertentscheidung in einem demokratischen Diskurs beitragen können.

Aus den genannten Gründen ist es unerläßlich, daß der Staat zur Erfüllung der gesellschaftlichen Aufgaben den Hochschulen eine bedarfsdeckende Finanzierung sichert. Nur so sind die Hochschulen nicht gezwungen, Mittel aus privater Hand einzuwerben, und der Einfluß damit verbundener Partikularinteressen auf die Hochschule kann beschränkt werden. Derzeit geschieht genau das Gegenteil: Private Stiftungen (z.B. CHE, Stifterverband), Firmen und Konzerne finanzieren Projekte, Forschungsvorhaben und Sachmittel, die wissenschaftlich notwendig, aber mit den knappen staatlichen Mitteln nicht zu verwirklichen sind (siehe D.1: Hochschulfinanzierung).

Für die Lehre folgt aus der demokratischen Funktion, daß Hochschulen bestrebt sein müssen, möglichst offen für breite Gesellschaftsschichten zu sein. So kann einerseits Wissen weiter gestreut und damit demokratische Mündigkeit gefördert werden. Andererseits erhält die Hochschule eine Rückkopplung an die Gesellschaft, die ihr als »Kompaß« und Korrektiv dienen kann. Unbestreitbar ist, daß zumindest dieses Ziel nicht im Interesse einer an kurzfristiger, betriebswirtschaftlicher Effizienz orientierten Hochschule liegen kann. Stellt man derartige Kriterien in den Mittelpunkt, so muß man eher daran interessiert sein, daß nur solche Personen die Angebote der Hochschulen wahrnehmen, die in der Lage sind, diese auch zu entgelten. Eine Selektion der Forschung mit Hinblick auf wirtschaftliche Verwertbarkeit entspricht diesem Ansatz ebenfalls viel mehr als eine große Bandbreite, die im Sinne der zuvor beschriebenen Ansätze wäre.

Fordert man also Autonomie und Demokratie für die Hochschulen gleichermaßen ein, so muß man den im Entwurf manifestierten Autonomiebegriff verändern. Nur ein neuer Autonomiebegriff kann durch die wechselseitige Ergänzung von Demokratie und Leistung zu einer »gesellschaftlich verantwortbaren Effizienz« führen (siehe A.2: Eindimensionalität). Die Einführung kurzfristigen, betriebswirtschaftlichen Denkens ist kontraproduktiv für die auf langfristige Entwicklung angelegten Bildungsprozesse. Damit verkümmern die Innovationspotentiale der Demokratie. Für eine zukunftsfähige Hochschule ist entscheidend, wie bei der Erfüllung ihrer demokratischen Aufgaben die Nutzung ihrer Mittel optimiert werden kann.

Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Verantwortung der Hochschulen ist ein simpler »Kurzschluß« zwischen Staat und Hochschule, wie bisher betrieben, nicht ausreichend. Keinesfalls dürfen aber aus genannten Gründen Teilinteressen ihren Einfluß auf das Bildungssystem weiter ausdehnen. Vielmehr ist eine Verzahnung von Hochschule, Gesellschaft und Staat unerläßlich. Diese muß auch institutionalisiert werden, um einen »Regelkreis« zwischen den drei Polen in Bewegung zu setzen.

Gesellschaftlich eingebunden ist die Wissenschaft auch dadurch, daß sie ihre Erkenntnisse der Gesellschaft zugänglich macht. Dadurch erhält die Gesellschaft einen stärkeren Nutzen wissenschaftlicher Arbeit und im Diskurs der Erkenntnisse bekommt die Wissenschaft einen Rückhalt in der Gesellschaft durch eine stärkere Rückbindung an sie.

Die gesellschaftliche Einbindung in die Hochschule kann durch eine dritte Säule »Weiterbildung« komplettiert werden. Hier findet die Verzahnung von aktiv in den Produktionsprozeß Integrierten mit angehenden und praktizierenden WissenschaftlerInnen statt. Durch Weiterbildung findet die zunehmende Komplexität des Produktionsprozesses ihr Pendant in der gestärkten Position der einzelnen Abhängigbeschäftigten.