Qualitative Studienreform

In der öffentlichen Debatte wird besonders von ArbeitgeberInnenseite immer wieder Problemlösungs- und Organisationskompetenz von HochschulabsolventInnen eingeklagt. Tatsächlich erfordert nicht nur der »Druck des Arbeitsmarktes« eine derartige Orientierung des Studiums, sondern sowohl die demokratische Partizipation als auch die wissenschaftliche Arbeit. Gesellschaftliche Vorgänge sind heute geprägt von multipolaren Problemstellungen, die nicht mehr aus dem engen Blickwinkel eines überkommenen Fächerkanons verstanden und gelöst werden können. Hierzu gehört auch, Erfahrung bezüglich der praktischen Auswirkungen der eigenen wissenschaftlichen Arbeit in eine Analyse mit einzubeziehen. Die gegenwärtige Struktur des Studiums wird diesen Anforderungen allerdings kaum gerecht. Weiterhin wird vor allem punktuelles Fachwissen in einem sehr spezialisierten Studium vermittelt, das es fast ganz der/dem Einzelnen überläßt, eine Beziehung zwischen der wissenschaftlichen Ausbildung und beruflicher Praxis herzustellen. Ebenso unpassend ist die reine Abschlußorientierung des Studiums. Alle Leistungen, die vor der Abschlußarbeit und den zugehörigen Prüfungen erbracht wurden, finden keinen Eingang in die Endnote und sind somit formal wertlos.

Aber auch die momentan eingeschlagenen »Reform«-Wege ziehen nicht die notwendigen Konsequenzen aus dieser Problematik. Im Gegenteil: Die simple Einführung eines Kurzzeitabschlusses (siehe C.4: Studienabschlüsse) - wie ihn auch der Referentenentwurf propagiert -, die noch nicht einmal über eine inhaltliche Umgestaltung der Studienstruktur nachdenkt, beschränkt den Horizont der Bildung noch weiter (siehe Zumloh und Gombert, Utopie als Ort der Bildung, in: http://www.geocities.com/CollegePark/Library/8231, 20.11.1998). Es ist eine falsche Annahme, man könne die Vermittlung der oben geforderten Kompetenzen, losgelöst von inhaltlicher Arbeit, quasi vorschalten. Nur in der wissenschaftlichen Arbeit sind solche Fähigkeiten zu erlangen, denn nur wenn man ein Problem inhaltlich durchdrungen hat, kann man auch Lösungskonzepte entwickeln.

Ganz ähnlich argumentieren Bultmann, Gützkow und Kiel, wenn sie fordern:

»Statt einer eindimensionalen Orientierung des Studiums an eng umrissenen und kurzfristig verwertbaren Berufsprofilen muß ein problemorientierter Praxisbezug die Studienangebote bestimmen. [...] Wissenschaftlichkeit, Theorie- und Praxisbezug sind daher unabtrennbare Bestandteile aller Studiengänge und -abschnitte.« (Bultmann/Gützkow/Kiel, Eckpunkte für eine qualitative Studienreform, in: http://www.bdwi.org/texte/studienreform.htm, 20.11.98)

Konkret ergeben sich daraus folgende Anforderungen an eine tatsächliche Reform des Studiums:

Ein konkretes Modell für eine qualitative Studienreform könnte daher folgendermaßen aussehen: Grundlage der Reform ist eine gestuftes Studium.

Am Beginn steht eine Studieneingangsphase, in der primär Orientierung an der Hochschule und in der Methodik wissenschaftlichen Arbeitens über eine exemplarische erste Beschäftigung mit durchaus komplexen Inhalten stattfinden soll. So sollen zentrale Fragestellungen und Dimensionen eines Faches eröffnet werden. Leistungsnachweise werden in dieser Zeit noch nicht eingefordert, um den Einstieg nicht zu erschweren. Die Studieneingangsphase kann einen Zeitraum von ein bis zwei Semestern einnehmen. In der anschließenden zweiten Phase werden in der gewohnten disziplinären Ausrichtung Grundlagen der einzelnen Studienfächer vermittelt. Diese beiden Phasen werden begleitet durch eine verbindliche Belegung fachfremder Veranstaltungen (etwa 2 Semesterwochenstunden), welche die Grundlage für späteres, interdisziplinäres Arbeiten bildet. Dieser zweite Abschnitt könnte etwa drei bis vier Semester einnehmen.

In einer dritten Phase werden die engen Fächergrenzen durch ein modularisiertes Studium weitgehend aufgehoben. Dabei werden die bisherigen Disziplinen in thematische Bereiche, sogenannte Makromodule, aufgeteilt. In jedem Bereich muß eine bestimmte Anzahl von Punkten erreicht werden. Diese können über ein differenziertes Kreditpunktesystem gesammelt werden. Der Gesamtwert ergibt sich aus der Addition von einzelnen Veranstaltungen und Projekten (Mikromodulen), die jeweils einen eigenen Punktwert haben. Es wäre denkbar, bestimmte Arten von Mikromodulen wie eine obligatorische mündliche Prüfung pro Makromodul festzuschreiben. Die Punktzahl pro Veranstaltung richtet sich nach dem Grad der Komplexität, der Zeitspanne und dem Anteil an selbstorganisierter Arbeit. Die Punktzahl der Veranstaltungen wird auf Vorschlag der jeweiligen ProjektträgerInnen (etwa Dozierende) vom Fachbereichsrat festgelegt. Dabei sollen besonders die bisher vernachlässigten interdisziplinären Veranstaltungen gefördert werden. So können Projekte mehreren thematischen Makromodulen zugeordnet werden. Die Studierenden aus unterschiedlichen Fachrichtungen können sich die Punktzahl in dem jeweils sie betreffenden Makromodul anrechnen. Beispiele, die nach demselben Prinzip funktionieren, finden sich bereits heute an einigen Hochschulen. So beweist etwa das Projekt »Nachhaltige UniDo«, daß unter Studierenden durchaus ein Bedarf an interdisziplinärer Arbeit besteht, zumal sich diese Prinzipien sehr einfach in bestehende Strukturen integrieren lassen (siehe C.2: Interdisziplinarität).

Ein Projekt, welches in Umfang und Anforderungen etwa der bisherigen Abschlußarbeit entspräche, sollte als eigenständiges Makromodul neben den thematischen Bereichen stehen. Der Zeitpunkt dieser Arbeit bleibt den Studierenden selbst überlassen. In der Regel wird sie jedoch weiterhin am Ende des Studiums stehen. Dieses Hauptprojekt können auch mehrere Studierende gemeinsam umsetzen. Art und Ausgestaltung werden zwischen BetreuerInnen und ProjektteilnehmerInnen in einem durchgängigen Prozeß entwickelt. Es sollte kein anderes Mikromodul geben, das mehr als die Hälfte der Wertigkeit dieses Hauptprojekts besitzt. Es sollte allein nicht mehr als drei Viertel des Punktwertes eines Themenbereichs besitzen.

Der Abschluß ist erreicht, wenn in jedem der Makromodule die erforderliche Punktzahl erreicht ist.

Eine Leistungsbewertung findet kontinuierlich in jedem Mikromodul statt. Die - in einer aufsteigenden Punkteskala gemessene - Leistung wird multipliziert mit der Grundpunktzahl des Mikromoduls. Tatsächlich alle Noten in die Endnote einfließen zu lassen, würde jedoch einen kontinuierlichen Druck aufbauen, der im Sinne eines selbstverantworteten Studiums nicht sinnvoll sein kann. Ein Blick auf die Angelsächsischen Länder zeigt, daß sich viele Studierende durch eine permanente Bewertung eher in einer sinnvollen Studientätigkeit behindert sehen. Zudem können auch in einem modulartigen Studiensystem viele sinnvolle Tätigkeiten nicht berücksichtigt werden, weil sie zu weit von der Fachausrichtung der Einzelnen/des Einzelnen entfernt liegen, wie etwa Mitwirkung an einem politischen Projekt für Studierende der Naturwissenschaften. Um hierfür gewisse Freiräume zu schaffen, muß die Relevanz der Einzelbewertungen für die Endnote relativiert werden. Es wird differenziert zwischen bewerteten Mikromodulen und unbewerteten Modulen. Von 40 Punkten innerhalb eines Makromodules müssen 20 Punkte durch bewertete Veranstaltungen erreicht sein. Die Bewertung dieser 20 Punkte fließt in die Abschlußnote am Studienende ein, das entspricht 60 Punkten aus den drei Makromodulen. Das Erreichen der 40 Punkte in einem Makromodul qualifiziert für die Abschlußprüfung, die mit 10 Punkten (für drei Makromodule also insgesamt 30 Punkte) in die Abschlußnote eingeht. Weitere 30 Punkte werden durch das bewertete studienbegleitende Hauptprojekt erworben. Die Abschlußprüfung unterstützt eine Zusammenschau des Faches über das gesamte Themengebiet des Makromodules. Der Anteil an der Abschlußnote ist jedoch geringer gewählt, um den Druck auf die Studierenden zu vermindern. Die Noten multipliziert mit der Punktzahl ergeben in der Gesamtsumme die Abschlußnote.

In ein solches Studienmodell ließe sich auch ein geringer qualifizierter Abschluß integrieren, indem für diesen die geforderte Punktzahl pro Themenbereich reduziert werden. Dieser wäre allerdings nicht konsekutiv, sondern alternativ zu verstehen. Allerdings muß für AbsolventInnen des geringeren Abschlusses die Möglichkeit bestehen, später die höhere Qualifikationsstufe anzustreben. An die Art der hierfür notwendigen Mikromodule könnte man ein bestimmtes Anforderungsprofil knüpfen.

Durchführbar ist ein solches modulorientiertes Studium allerdings nur bei einer massiven Verbesserung des Beratungsangebots (siehe C.5: Studienberatung). So sollte etwa über ein MentorInnenprogramm nachgedacht werden. JedeR Lehrende eines Fachbereiches betreut demnach eine bestimmte Anzahl von Studierenden über einen längeren Zeitraum hinweg. In jedem Fall sollte nach den ersten beiden Phasen ein MentorInnen-Wechsel stattfinden, um eventuell eingeschliffene Perspektiven nochmals zu durchbrechen. Aufgabe des/der MentorIn ist nicht die Leistungskontrolle, sondern die Beratung bei der Studienplanung und die Fremdeinschätzung für die Studierenden.

Der Referentenentwurf nennt einige dieser Ziele in § 8. Allerdings bleiben die Einlassungen seltsam inhaltsleer. Prinzipiell wäre dies im Sinne einer kreativen Entwicklung vor Ort noch nicht zu beanstanden, würde die kritiklose Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen die Ansätze der Studienreform nicht bereits wieder konterkarieren.