Chancengleichheit

Die vielfältigen Versuche neoliberaler Bildungspolitik, gerade auch die Hochschulen zu Freiräumen einer aggressiv proklamierten Risikogesellschaft umzudefinieren, sind vor dem Hintergrund gesellschaftsgeschichtlicher Entwicklungen zu sehen. Die Geschichte der Bundesrepublik ist dabei bestimmt von einer allmählichen Überlagerung der dominierenden Besitzklassenstruktur mit einer Leistungsklassenstruktur (zur Begrifflichkeit: Klassen in der europäischen Sozialgeschichte, hg. von Hans-Ulrich Wehler, Göttingen 1979, S. 150-155) und der ihnen eigenen Kapitalsorten auch jenseits des ökonomischen Kapitals (Bourdieus Unterscheidung zusätzlicher kultureller, sozialer Kapitalsorten zur subtilen Neufassung des klassengeschichtlichen Grundantagonismus). Doch beinhaltet die zunehmende Bedeutung der Leistungsklassen nicht zwangsläufig mehr Gleichheit oder auch nur Chancengleichheit. Das hat die konservative Wende in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens erfahrbar gemacht. Wo sich die Bedeutung der unterschiedlichen Leistungsklassen aus ihrer Stellung im Kräftedreieck von Marktmacht, Staatsmacht und Verbandsmacht herleitet (zur Begrifflichkeit: Wehler 1979, S. 199-202), ergibt sich eine dreidimensionale Struktur der Klassenbildung. Das Zusammentreffen von großer Marktmacht, starker Verbandsmacht und gutem Zugang zur Staatsmacht ergibt jene Dominanz von Interessenrepräsentation, die im Zuge neoliberaler Entwicklungen nun auch strukturell Einfluß auf die Hochschulen gewinnen will. Forderungen nach einer leistungsbezogenen Finanzierung der Hochschulen, nach einer verstärkten Förderung der Eliten und nach einer managementartigen Reform der Leitungsstrukturen in den Hochschulen müssen vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund beurteilt werden. Solchen Zusammenhang auszublenden bedeutet, die gesellschaftlich finanzierten Hochschulen zum Instrument derjenigen Funktionsklassen zu machen, die schon heute über das Zusammenspiel von Marktmacht, Verbandsmacht und Staatsmacht dominant sind.

Die Hochschule als Ausdruck und Entwicklungsmoment des demokratischen Interessensausgleichs hingegen bedarf des Leitbildes der Chancengleichheit über die Grenzen der Funktionsklassen hinweg. Das Erbringen von Leistung darf nicht zum Privileg bestimmter Funktionsklassen werden, sondern muß wieder für alle möglich werden. Was dabei jeweils als Leistung gilt, darf nicht eindimensional (etwa nach kurzfristigen betriebswirtschaftlichen Maßstäben) festgelegt sein, sondern muß im Konflikt unterschiedlicher Gesellschaftsentwürfe jeweils neu zwischen den Funktionsklassen ausgehandelt werden. Leistung als Marktkonformität festschreiben zu wollen ist nur der Ausdruck eines bestimmten Klasseninteresses, das eindimensional auf das ökonomische Kapital fixiert bleibt; nicht gerecht wird diese Einschränkung der zunehmend komplexer gewordenen Klassengesellschaft, den ihr daraus erwachsenden sozialen Möglichkeiten unterschiedlicher Partizipationsfelder und der daraus wiederum resultierenden Demokratisierung. Den Hochschulen als Raum eines dem geschichtlichen Entwicklungsstand entsprechenden Leistungsbegriffs kommt gegenüber derartigen Verkürzungsversuchen eine kritische Funktion zu. Darüber hinaus kommt den Hochschulen als Raum des immer wieder neu zu hinterfragenden Leistungsbegriffs in besonderer Weise eine konstruktive Funktion zu. Der vorliegende Referentenentwurf sieht gerade diese beiden Aspekte anders, wenn er einen betriebswirtschaftlich verkürzten Leistungsbegriff auf die Hochschulen übertragen will. Den Bildungssektor und insbesondere die Hochschulen so zu organisieren, daß eine möglichst weitgehende Chancengleichheit etabliert werden kann, bedeutet zugleich, das Gefüge der Funktionsklassen dynamisch zu halten und damit die Voraussetzung für eine entwicklungsfähige Demokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche zu schaffen.

Chancengleichheit erschließt erst eine gleichberechtigte Existenz in der Vielfalt, ist so Ausdruck und Fundament einer pluralistischen demokratischen Gesellschaft. Unter den bestehenden Verhältnissen mannigfaltiger Ungleichheit ist Chancengleichheit nicht einfach dadurch herzustellen, daß die gleichen Bedingungen für alle gelten. Es bedarf vielmehr der spezifischen Förderung der im bisherigen Gesellschaftsgefüge Benachteiligten. In dieser Weise zu fördern sind finanziell Schwache, die in einer zunehmend nach Leistungsklassen sich differenzierenden Gesellschaft nicht zusätzlich dadurch benachteiligt werden dürfen, daß die aus der Besitzklassenstruktur verbliebene Ungleichheit ihre Startchancen mindert. Zu fördern sind Behinderte und Angehörige sozialer Randgruppen, weil sie aufgrund der habituellen Organisation von Gesellschaft vergleichbare Leistungen nur mit erhöhtem Einsatz erbringen können.

Aufgrund sprachlicher und kultureller Barrieren gilt Ähnliches für AusländerInnen; zu fördern sind unter dem Aspekt der Chancengleichheit hier besonders jene ausländischen Studierenden, die unter ökonomischen, sozialen, ethnischen oder religiösen Aspekten nicht zu den leicht in das Gesellschaftsgefüge des Gastlandes Integrierbaren rechnen. Angebote für ausländische Studierende sollten sich stärker als bisher an den Erfordernissen derjenigen orientieren, die nicht aus nordamerikanischen oder westeuropäischen Ländern zum Studium an deutsche Hochschulen kommen. Die finanzielle Lage dieser Studierenden erfordert Änderungen bei der Erteilung von Arbeitserlaubnissen (Aufheben der Bevorrechtigtenklausel beim Besetzen von Arbeitsplätzen; Änderung der Blockarbeitserlaubnis im Fachstudium hin zu einer wöchentlich begleitenden Arbeitserlaubnis), damit ein Studienaufenthalt jenseits der Illegalität von den ausländischen Studierenden finanziert werden kann. Gerade im Bereich ausländischer Studierender muß sich die Hochschulpolitik als Beitrag zur strukturellen Entwicklungshilfe verstehen; die finanzielle Förderung sozial Benachteiligter aus den Gastländern könnte hier einen Ausgleich gegenüber der sozialen Bildungsselektion schaffen. Gerade das deutsche Hochschulsystem mit seinen spezifischen Komponenten an selbständiger Arbeit wird von ausländischen Studierenden oft deshalb bevorzugt, weil es über bloßes Wissen vor allem Problemlösungskompetenz vermittelt und zu Eigenständigkeit und Unabhängigkeit qualifiziert. Entsprechendes gilt für deutsche Abschlüsse, die in vielen Entwicklungsländern und in den osteuropäischen Staaten ein hohes Ansehen genießen.

Über alle Funktionsklassen und Benachteiligungen hinweg sind die Hochschulen als emanzipatorischer Raum verpflichtet, die Chancengleichheit für Frauen real herzustellen. Das Landeshochschulgesetz sollte in allen diesen Bereichen mangelnder Chancengleichheit organisatorische Standards (etwa in Form von Beauftragten oder Räten) flächendeckend vorschreiben, um so strukturell Benachteiligungen abbauen zu helfen. Über sehr allgemein gehaltene Aufgabenbeschreibungen hinaus (§ 3 Absätze 3, 6, 7), die Funktionsbeschreibung der Gleichstellungsbeauftragten (§ 23) und eine begrüßenswerte Modifizierung im Bereich des Hochschulzugangs für ausländische Studienbewerberinnen und Studienbewerber mit deutschsprachiger Hochschulqualifikation (§ 69) enthält der Referentenentwurf hier nichts Nennenswertes. Gerade die Förderung ausländischer Studierender (etwa über zusätzliche Angebote) kann dazu beitragen, über die Hochschulen ein anderes, integrativeres Klima zu schaffen. Solche Öffnung für ihre Inhalte und Belange könnte Studierende aus dem Ausland wieder verstärkt an deutsche Universitäten ziehen; sie trägt als inhaltliche und kommunikative Bereicherung der deutschen Studienlandschaft sicherlich stärker zur Internationalisierung des deutschen Hochschulwesens bei, als dies mit einer rein organisatorischen Übernahme von vermeintlich international standardisierteren Hochschulabschlüssen (Bachelor, Master) der Fall ist (siehe C.4: Studienabschlüsse). Auf jeden Fall wird so die Vielfalt weiter ausgebaut, wohingegen die Internationalisierungsbemühungen des neuen Hochschulrahmengesetzes wie des Referentenentwurfs darauf abzielen, eine bestehende, inhaltlich im einzelnen zu überprüfende und gegebenenfalls umzugestaltende Differenzierung zugunsten von Normierungen abzubauen.

Erst wo über eine ausgebaute Förderung mehr Chancengleichheit beim Zugang wie beim Arbeiten in den Hochschulen hergestellt ist, wird die wissenschaftlich sinnvolle Förderung von Eliten zum Ausdruck einer offenen Gesellschaft. Das Schaffen von Chancengleichheit muß als Voraussetzung für eine Elitenförderung verstanden werden, die gesellschaftlich rückgebunden bleibt. Wo sich eine Gesellschaft über Leistungsklassen ausdifferenziert, dürfen auch Eliten nicht mehr ausschließlich über die Marktmacht definiert werden.

Ein wichtiges Moment für die Gewährung von Chancengleichheit ist - unter den gegenwärtigen (zum Teil ökonomisch bedingten) Verhaltensweisen der Studierenden - das möglichst flächendeckende Angebot von Studienmöglichkeiten (siehe A. 3: Annäherung). Die breite Streuung von Hochschulen, wie sie gerade in Nordrhein-Westfalen seit den siebziger Jahren besteht, ist für viele, gerade aus Familien mit niedrigem Einkommen stammende Studierende eine wesentliche Voraussetzung, ein Studium überhaupt aufnehmen zu können (elternhausnahe Studienmöglichkeit). Die unter dem Stichwort »Regionalisierung« geführte Debatte um die kritische Analyse der gewachsenen Hochschullandschaft, die vor dem Hintergrund finanzpolitischer Engpässe erfolgt, und daraus abgeleitete Synergiebemühungen, etwa beim funktionalen Zusammenlegen von Studiengängen, dürfen die sozialen Momente einer dezentralen und breiten Hochschullandschaft im Bildungsland Nordrhein-Westfalen nicht unberücksichtigt lassen.

Wo verstärkt Anstrengungen unternommen werden, damit Entwicklung nicht aufgrund von Ungleichheit unmöglich bleibt, darf das Herstellen von Chancengleichheit aber nicht auf die Startchancen innerhalb eines Sozialisierungsprozesses beschränkt bleiben. Wo Biographien zunehmend Brüche aufweisen, die Fragmentarisierung des Lebens in immer stärker differenzierte Lebensabschnitte eine notwendige Folge der Differenzierung aller Lebensbereiche zu sein scheint, hat die Gesellschaft in ihrer Organisationsweise auch dafür zu sorgen, daß den erhöhten Risiken für jedeN EinzelneN auch bessere Chancen gegenüberstehen. Darum gilt es, Strukturen zu schaffen, die es ermöglichen, Chancengleichheit innerhalb eines lebenslangen Prozesses von Umorientierungen bereitzustellen (siehe B.4: Weiterbildung). Chancengleichheit in diesem Sinne betrifft dann in besonderer Weise den Bildungszugang innerhalb einer fortgeschrittenen Arbeitsbiographie. Es gilt hier verstärkt Möglichkeiten des Hochschulzugangs für diejenigen zu schaffen, die sich nicht über den primären Weg der allgemeinen Hochschulreife, sondern über berufliche Leistungen qualifiziert haben.

Weil auch heute der Zugang zu und die Anwendbarkeit von Wissen und Bildung in erster Linie von der Ausstattung mit Kapital abhängig ist, kann das Herstellen von Chancengleichheit nur gelingen, wo finanzielle Ungleichheiten zumindest für die Zeit der Hochschulzugehörigkeit abgefangen werden. Dazu bedarf es einer umfangreichen Reform der Studierendenförderung. Die finanzielle Förderung von Studierenden sollte nicht länger als Reparaturleistung des Sozialstaates, sondern als gesellschaftliche Gestaltungsmöglichkeit verstanden werden, die darauf Wert legt, die Durchlässigkeit der Funktionsklassen zum Fundament ihres demokratischen Selbstverständnisses zu machen.

Was ein neues Landeshochschulgesetz zur Herstellung von Chancengleichheit beiträgt, ist ein zentraler Gradmesser für die Fortschrittlichkeit einer zweiten Bildungsreform.