Fazit: Einstieg in eine demokratische, nachhaltige und soziale Hochschulreform
Die Reform der Hochschulen ist an einem Scheideweg angekommen. In einem schleichenden Prozeß sind über viele Jahre die Prinzipien der Bildungsreform aus den siebziger Jahren zurückgenommen worden. Die finanzielle Unterversorgung hat dann ihrerseits dazu beigetragen, daß mit den Resten der Reform die Hochschulen heute kurz vor dem Kollaps stehen. Wie ein Zynismus empfinden es da viele Hochschulanghörige, wenn es inzwischen - in Anlehnung an die Regierungserklärung von Wolfgang Clement - auch aus Richtung des Ministeriums für Wissenschaft und Forschung heißt, »wir brauchen nicht ,mehr Geld für Reformen', sondern ,mehr Reformen fürs Geld'.« Diejenigen, die nun die Reform der Hochschulen fordern und darunter eine Anpassung an das ökonomische System verstehen, haben ihre Vorstellungen in Form von Gesetzesnovellen in Bund und Land vorgelegt. Doch wo eine nicht nur für die Hochschulpolitik richtungsweisende Entscheidung herbeizuführen ist, müssen in einer demokratischen Gesellschaft auch andere Konzepte berücksichtigt werden, solche, die die Richtung des Fortschritts ändern wollen, die demokratische Gestaltung der gesellschaftlichen Lebensbedingungen nach sozialen, ökologischen und kulturellen Zielen der bloßen Orientierung auf die Marktwirtschaft vorziehen. Die Studierendenproteste im Herbst 1997 haben deutlich gemacht, daß alternative Konzepte existieren. Diese aus den Hochschulen heraus erarbeiteten Konzepte müssen nun in den politischen Prozeß eingebracht werden und dort endlich Beachtung finden.
Das vorliegende Positionspapier versteht sich als Parteinahme für die Verwirklichung der sozial gerechten Gruppenuniversität. Nach dem über 50jährigen Bestand einer demokratischen Staatsform müssen jetzt endlich die Ansätze aus der ersten Bildungsreform im Sinne wirklich demokratischer Prinzipien umgesetzt werden.
Zukunft definiert sich in einer demokratischen Ordnung nicht, indem man Wenige ein kurzfristig erfolgreiches ökonomisches System (betriebswirtschaftliche Effizienz) auf Bereiche übertragen läßt, die langfristig auf Zukunftsfähigkeit ausgerichtet sein müssen, wenn sie ihrer gemeinsamen Verantwortung für globale Chancengleichheit und ökologischen Erhalt genügen wollen: die Hochschulen müssen sich »fit machen« für die Beantwortung der ökonomischen, sozialen und ökologischen Fragen von morgen. Dazu ist es erforderlich, daß sie nicht einfach nur Bestehendes übernehmen, sondern das heute Denkbare in demokratischer, ökologischer und sozialer Perspektive weiterentwickeln. Hochschulentwicklung muß darum zu einem Projekt gemacht werden, das in besonderer Weise auf Nachhaltigkeit hin perspektiviert ist. Das Gebot der Stunde ist darum: Mehr demokratische Reform durchsetzen. Entwicklungsarbeit dieser Art kann nicht vom Rotstift diktiert werden, das wäre schon ökonomisch ineffizient. Entwicklungsarbeit dieser Art braucht eine Aufbruchsstimmung, die ihre wichtigsten Impulse aus allen Gruppen an den Hochschulen gewinnt. Entwicklungsarbeit dieser Art bedarf der Chancengleichheit und Demokratie; beides muß die Grundlage für den Umbau der Hochschulen sein, der diese befähigt, die Initiative gegenüber der Bürokratie und der Wirtschaft zurückzugewinnen.
Die Schaffung eines Landeshochschulgesetzes für Nordrhein-Westfalen bietet die Möglichkeit, langfristig nachhaltige Reformanstrengungen im gerade skizzierten Sinne anzustoßen. Die differenzierte und ausgebaute Hochschullandschaft in NRW eignet sich dazu in besonderer Weise. Was hier seit den sechziger und siebziger Jahren entstanden ist, kann zu Recht als das ökonomisch erarbeitete ,Gründungskapital' für diejenigen gelten, die heute den Hochschulen angehören. Diese Struktur darf nicht leichtfertig im Sinne einer eindimensional betriebswirtschaftlich ausgerichteten Konzentrationspolitik zerschlagen werden. Aus dem in der Vergangenheit Geleisteten erwächst der besondere Reformanspruch an ein neues Landeshochschulgesetz Nordrhein-Westfalen. Will die Gesetzesnovelle diesem Anspruch gerecht werden, muß sie Verfahrensweisen und Entscheidungsstrukturen beschreiben, die Partizipation und Mitbestimmung aller Hochschulangehörigen und einen breiten Hochschulzugang fördern. Denn nur so ist ein gesellschaftlich getragenes Reform- und Aufbruchsklima möglich. Dabei gilt als Grundsatz: für die demokratischen Hochschulen in einer demokratischen Gesellschaft ist das Beste, was historisch an Demokratie ausgebildet werden konnte, als Basis für Zukünftiges gerade gut genug. Auf diese Weise wird der Forderung nach Deregulierung in einer Weise entsprochen, die den besonderen Bedingungen der Hochschulen erst gerecht wird. Dem jargonhaften Reden von Deregulierung, die dann in der Regel eine Entkoppelung der Hochschule von komplexen gesellschaftlichen Prozessen, die Reduzierung auf die Monokausalität betriebswirtschaftlicher Argumentation meint, treten wir entschieden entgegen. Deregulierung an den Hochschulen heißt für uns Befähigung zum demokratischen Selbsttun, kritisch begleitet von der Gesellschaft und diese selbst wieder kritisch begleitend. Ein solches Verständnis von Deregulierung basiert auf der weitgehenden Selbstverwaltung der Hochschulen, ist allerdings nicht auf diese eingeschränkt, sondern über die administrativen Ebenen hinaus auf Lehre, Forschung und die Weiterbildungsaufgaben ausgedehnt vorzustellen.
Als Leitbilder für eine demokratische Hochschulreform, wie wir sie mit diesem Positionspapier in Abgrenzung zum Referentenentwurf des Landeshochschulgesetzes in ihrer konkreten Funktionsweise dargestellt haben, erscheinen uns besonders wichtig:
Eine Hochschule, die sich ihrer Rolle innerhalb einer demokratischen Gesellschaft wieder bewußt wird und sich nicht von ökonomischen Interessen marginalisieren läßt.
Wirklich demokratische Strukturen in den Hochschulen, die alle Gruppen als gleichermaßen Betroffene auch gleichberechtigt beteiligen.
Die Partizipation aller Hochschulangehörigen an den Entscheidungsprozessen innerhalb der Hochschulen. Der Ausbau entsprechender Mitbestimmungsmodelle ist zu forcieren. Der Abbau bürokratischer und inhaltsferner Strukturen läßt sich so gestalten.
Die deutlich verbesserte finanzielle Ausstattung der Hochschulen; die jahrzehntelange Unterfinanzierung hat eine den Studierendenzahlen angemessene Arbeit an den Hochschulen fast unmöglich gemacht und damit zur Reformunfreudigkeit erheblich beigetragen; darum brauchen die Hochschulen mehr Geld für Reformen.
Eine qualitative, prozeßorientierte Studienreform, die den Eckpunkten: Interdisziplinarität, Selbstbestimmung, Projektorientierung, Praxisbezug und Durchlässigkeit Rechnung trägt.
Die institutionelle Verankerung von interdisziplinären Strukturen, die Durchlässigkeit zwischen Studiengängen, die verstärkte regionale Integration des tertiären Bildungssektors, sowie die Schaffung eines sinnvollen Theorie-/Praxisbezug unter einem Dach durch eine neue Debatte über Gesamthochschulen.
Eine massive Verbesserung der Studienberatung, die an die Stelle von Zwang und Selektion eine fortgeschriebene, fachlich kompetente Betreuung setzt.
Die Beibehaltung von Diplom und Magister, die Zurücknahme des Bachelors als ein die betriebliche Ausbildung gefährdender Abschluß ohne wissenschaftliche Abschlußarbeit.
Die Öffnung der Hochschulen für breite Bevölkerungsschichten im Sinne eines wieder umfassend verstandenen staatlichen Bildungsauftrags.
Das Herstellen von Chancengleichheit innerhalb eines lebenslangen Prozesses möglicher Umorientierungen; wo öffentliche Hochschulen der Gesellschaft als Ausdruck ihres sozialen, freiheitlichen und demokratischen Selbstverständnisses dienen, müssen die Zugangs- und Arbeitsmöglichkeiten aller Hochschulangehörigen vergleichbar sein.
Die Etablierung einer solchen Umorientierung ermöglichenden Weiterbildung als drittem Aufgabenfeld der Hochschulen neben Forschung und Grundständigem Studium; dabei ist die curriculare und organisatorische Verzahnung von Erstausbildung und Weiterbildendem Studium aufzubauen.
Die Förderung des Wissens- und Technologietransfers unter Vermeidung der Determinierung von Forschungsaufgaben durch Dritte.
Der Abbau berufsständischer Strukturen und die gleichzeitig auszubauende hochschulinterne Durchlässigkeit (statt Marginalisierung Ausbau des Mittelbaus). Inhaltliche Arbeit muß aufgewertet werden; wo dies über eine partizipatorische Arbeitsorganisation verwirklicht wird, bedarf es keiner äußeren Anreize.
Die Einführung der Evaluation zur Stärkung des selbstkritischen Diskurses zwischen den Gruppen der Universität, keinesfalls jedoch als Kriterium zur vermeintlich leistungsorientierten Mittelvergabe.
Die Verzahnung von Hochschule, Staat und Gesellschaft durch ein in die Region integriertes und demokratisch ausstrahlungsfähiges und legitimiertes Kuratorium.
Die umfassende Festschreibung des Verbots von Studiengebühren und damit die Schaffung von Klarheit innerhalb des Gesetzes bezüglich der Studiengänge.
Die »Projektgruppe Hochschulreform NRW« schlägt vor, die umfangreichen Reformbemühungen in kurz- und mittelfristige Maßnahmen zu unterscheiden. Die kurzfristigen Maßnahmen müssen den Einstieg in eine demokratische, nachhaltige und soziale Hochschulreform vorbereiten. Zu diesem Zweck definieren sie Rahmenbedingungen, welche die Handlungsblockierung der Hochschulen beseitigen helfen. Sie schaffen die Voraussetzung, damit die Hochschulreform jene Nachhaltigkeitsebene erreicht, welche durch die fortgeschrittene Bürokratisierung der Hochschulen verhindert wird. Zu den kurzfristigen Maßnahmen zählen:
die kontinuierliche, gerade auch die Entscheidungsfindung einbeziehende Beteiligung aller die Hochschule bildenden Gruppen an einem demokratischen Prozeß der Hochschulreform;
die Berücksichtigung der erhobenen Forderungen für den Entwurf der Düsseldorfer Koalition von SPD und Bündnis 90/Die Grünen;
Hinwirken auf ein wirklich reformerisches Hochschulrahmengesetz;
die Überprüfung rechtlicher Bedingungen (Verfassungsgerichtsurteil von 1973);
die Einrichtung runder Tische auf allen Ebenen: Problemstände können so differenziert erfaßt werden; für die Ergebniswiedergabe ist darauf zu achten, daß diese den demokratischen Prozeß reflektierend und repräsentierend erfolgt; die Beteiligung möglichst vieler aus allen Gruppen erzeugt die Einsicht, selbst verantwortlich zu sein; so wird deutlich, daß sich Engagement für die Hochschulreform wieder lohnt;
die sofortige Öffnung aller hochschulpolitischen Gremien für die Öffentlichkeit, sofern keine persönlichen Datenschutzbelange betroffen sind;
die breite und dauerhafte Diskussion um Lösungsansätze zur Bildungsreform;
die Aufwertung der Bildungspolitik als Schlüsselfeld nachhaltiger Gesellschaftsentwicklung; dieser Anspruch begründet die Aufstockung der Bildungshaushalte;
die Repolitisierung der Hochschulpolitik anstelle einer bloßen Moderation der ökonomisch durchsetzungsfähigsten Interessen; dem Fortschritt ist durch politische Vorgaben eine Richtung zu geben, in der die Entwicklung der Produktivkräfte einen Beitrag zur materiellen und ideellen Emanzipation der Menschen leistet und gleichzeitig die Kriterien ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit erfüllt werden;
Die mittelfristigen Maßnahmen führen die im Diskussionsprozeß konzipierte nachhaltige, soziale und demokratische Hochschulreform dann durch; sie umfassen die konkreten Ausformulierungen der Reformen und deren landesweite Etablierung. Ziel der Maßnahmen muß darüber hinaus eine Verstetigung des Reformprozesses sein, damit die Hochschulen auf Dauer die Befähigung zur gesellschaftlichen Avantgarde erhalten.
Die Gesellschaft braucht die Hochschulen wie die Hochschulen die Gesellschaft brauchen.